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#sachbuchpreisbloggen „Das deutsche Alibi“ von Ruth Hoffmann


#sachbuchpreisbloggen „Das deutsche Alibi“ von Ruth Hoffmann

Sophie Weigand, Literature matters

Newsletter „Nonfiction: Sachbuchtipps“

2024 jährt sich das sogenannte „Stauffenberg“-Attentat zum achtzigsten Mal. Eine gute Gelegenheit, um einen kritischen Blick auf die Rezeption des Ereignisses zu werfen, das die Bundesrepublik auch lange nach Kriegsende noch intensiv beschäftigte. Historikerin Ruth Hoffmann gelingt mit „Das deutsche Alibi“ eine eindrückliche Mentalitätsgeschichte deutschen Erinnerns, insbesondere in Bezug auf den Widerstand gegen Hitler. Mit Beginn im Jahr 1945 spannt sie einen weiten Bogen bis zur Gegenwart und macht deutlich, wie der 20. Juli 1944 immer wieder für Parteipolitik oder Ideologie instrumentalisiert worden ist – und wie sich die Perspektive auf die Widerstandskämpfer:innen geändert hat. Direkt nach Kriegsende galten Stauffenberg, von Tresckow u. a. vor allem als Verräter:innen.

„Deutschland treffe ‚die geringste Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs‘, tönte Hedler (Anmerkung S.W.: Wolfgang Hedler, Bundestagsabgeordneter der Deutschen Partei) an jenem Novembertag, vier Jahre nach Kriegsende. ‚Schuld an unserem Ende tragen die Widerstandskämpfer.‘ An ihrem ‚Verrat‘ sei Deutschland zugrunde gegangen. Mit dieser Ansicht stand Hedler nicht allein da. Viele Deutsche sahen in den Akteuren des 20. Juli 1944 noch immer Verräter und machten sie mitverantwortlich für den verlorenen Krieg. Es war die zweite Dolchstoßlegende der deutschen Geschichte, und sie sollte sich noch bis weit in die 70er-Jahre halten.“ (S.16)

Hoffmann beschreibt die Atmosphäre der 50er-Jahre, die gescheiterte Entnazifizierung und der daraus folgende Aufstieg alter Nazigrößen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Zwar ist einem das nicht neu, wenn es aber mit so konkreten Beispielen unterfüttert wird, wie Hoffmann sie liefert, ist es manchmal schwer zu ertragen und aus heutiger Perspektive unvorstellbar.

In der britischen Besatzungszone, zu der Braunschweig gehörte, waren inzwischen so viele ehemalige NS-Juristen in den Dienst zurückgekehrt, dass selbst das zuständige Ministerium feststellen musste, ‚die personelle Besetzung der Gerichte‘ böte ‚im Wesentlichen genau das gleiche Bild … wie im Jahre 1945 vor dem Zusammenbruch‘.“ (S.37)

Im Laufe der Zeit, insbesondere in Opposition zur Erinnerungspolitik der DDR, wurde der Widerstand des 20. Juli 1944 zu einer Art Gründungsmythos der Bundesrepublik umgedeutet und zur Entschuldung der Deutschen insgesamt herangezogen. Viel Heldenmut, viel Opferbereitschaft und Freiheitsliebe – in diesem Licht sonnte man sich gern, als schon kaum noch jemand wusste, wer zum Kreis der Widerstandskämpfer:innen des 20. Juli 1944 gehört hatte. Zunehmend unter den Tisch fiel bei dieser glorifizierenden Betrachtung allerdings, dass es lange vor dem 20. Juli 1944 Widerstand gegeben hatte: zivilen Widerstand, sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstand.

Ruth Hoffmann zeigt auf, wie dieser Widerstand immer wieder delegitimiert und kleingeredet wurde. Insbesondere der kommunistische Widerstand fand in Zeiten des Kalten Krieges praktisch keine Erwähnung. Zeitweilig wirkte es fast, als sei das „Stauffenberg-Attentat“ das einzige, das jemals verübt wurde – oder mindestens das einzige, das Erwähnung verdiente. Manche waren der Ansicht, als Widerstand seien ohnehin nur Handlungen unter Einsatz des eigenen Lebens zu werten. Hoffmann widmet den Verstrickungen der Widerstandskämpfer:innen des 20. Juli 1944 ein ganzes Kapitel. Während andere für ihren Widerstand schon lange im KZ saßen, waren Teile der späteren Widerstandskämpfer:innen aus dem Stauffenberg-Tresckow-Kreis noch immer glühende Anhänger nationalsozialistischer Ideologie.

Gerade Claus von Stauffenberg ist dafür das beste Beispiel: Der Mann, der später zu der zentralen Figur des Umsturzversuchs werden sollte, nahm im September 1939 noch in voller Überzeugung, das Richtige zu tun, am Feldzug gegen Polen teil.“ (S.127)

Die Spaltung und Delegitimation bestimmter Teile des (ohnehin überschaubaren) Widerstands ist ein Thema, das über Jahrzehnte die Bundesrepublik beschäftigt und Hinterbliebene, Angehörige und Überlebende entzweit hat. Ich bin sehr begeistert von Ruth Hoffmanns minutiöser Aufarbeitung dieses Themas samt all seiner Wendungen, Vereinnahmungen und Skandale über die Jahrzehnte – unmöglich, dass hier an dieser Stelle alles aufzuführen, auch wenn ich gern würde. Man kann bei der Lektüre so viel über die deutsche Nachkriegsgesellschaft und ihre Prioritäten lernen, so viel über Erinnerungspolitik und die Notwendigkeit, formelhaften Gedenkphrasen auch Taten folgen zu lassen. Ich würde diesem Buch den Sachbuchpreis sehr gönnen!

Der Originalbeitrag ist in Sophie Weigands Newsletter nachzulesen.

Instagram „literatourist“

Die Verleihung des Deutschen Sachbuchpreises ist jetzt fast zwei Monate her und ich hatte in meinem Newsletter auch schon über mein Patenbuch gesprochen, dem ich den Sieg sehr gegönnt hätte – leider habe ich dann vergessen es hier auch noch mal zu kommunizieren! Sorry! Verspätet, aber nicht weniger begeistert: Lest „Das Deutsche Alibi“!

2024 jährt sich das sogenannte „Stauffenberg“-Attentat zum achtzigsten Mal. Eine gute Gelegenheit, um einen kritischen Blick auf die Rezeption des Ereignisses zu werfen, das die Bundesrepublik auch lange nach Kriegsende noch intensiv beschäftigte. Historikerin Ruth Hoffmann gelingt mit „Das deutsche Alibi“ eine eindrückliche Mentalitätsgeschichte deutschen Erinnerns, insbesondere in Bezug auf den Widerstand gegen Hitler. Mit Beginn im Jahr 1945 spannt sie einen weiten Bogen bis zur Gegenwart und macht deutlich, wie der 20. Juli 1944 immer wieder für Parteipolitik oder Ideologie instrumentalisiert worden ist – und wie sich die Perspektive auf die Widerstandskämpfer:innen geändert hat.

Im Laufe der Zeit, insbesondere in Opposition zur Erinnerungspolitik der DDR, wurde der Widerstand des 20. Juli 1944 zu einer Art Gründungsmythos der Bundesrepublik umgedeutet und zur Entschuldung der Deutschen insgesamt herangezogen – nachdem sie in den 50ern vor allem als Verräter:innen galten. Zunehmend unter den Tisch fiel bei dieser glorifizierenden Betrachtung allerdings, dass es lange vor dem 20. Juli 1944 Widerstand gegeben hatte: zivilen Widerstand, sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstand.

Ich bin sehr begeistert von Ruth Hoffmanns minutiöser Aufarbeitung dieses Themas samt all seiner Wendungen, Vereinnahmungen und Skandale über die Jahrzehnte – unmöglich, dass hier an dieser Stelle alles aufzuführen, auch wenn ich gern würde. Man geht so viel klüger aus diesem Buch, als man hineingegangen ist.

Der Originalbeitrag ist auf Sophie Weigands Instagramkanal nachzulesen.


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