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Den Auftakt macht Bettina Schnerr (Bleisatz), die sich teils beeindruckt, aber auch sehr skeptisch zeigt:
Tja, was ist das Geheimnis großer Literatur? Michael Maar hat eine Antwort darauf, verspricht das Buchcover. Große Literatur, da ist sich Maar sicher, ist eine Frage des Stils. Er stellt mit Hilfe von fünfzig verschiedene Autor:innenportraits seinen Zugang zu Stilfragen in der Literatur vor.
Mit diesem Buch landete der Autor auf der Nominiertenliste vom Deutschen Sachbuchpreis 2021, der in diesem Jahr erstmals vergeben wird. Jury und Verlag stellen das Buch unisono als “Haupt- und Lebenswerk” vor, ein Buch, dem eine vierzig Jahre lange Lesebiografie zu Grunde liegt.
Ein Zirkeltraining der Sprache, ein Boot Camp des Geistes, eine Schule der Achtsamkeit. Maar analysiert und argumentiert überzeugend. Ein Buch, mit dem man schreiben und denken lernen kann.
aus der Jurybegründung zur Nominierung
Maar fasst zunächst einige generelle Impressionen zusammen. Über Stil ist schon Einiges geschrieben worden und viele Autoren haben in der Vergangenheit übereinander geurteilt, sich gegenseitig Stil zu- und abgesprochen. Maar zitiert und mischt mit: Er benennt beispielsweise Autoren, denen jeder Roman in einer anderen Tonlage gelang (Döblin) und solche, die über ihr gesamtes Schaffen hinweg an einem persönlichen Sound erkennbar waren (Heine). Schnell kommt auch ein Kernproblem zur Sprache:
Schlechten Stil zu beschreiben ist relativ leicht. Man kann den Finger drauf legen, was platt ist, wo es holpert, wo es schief ist, wo grau und abgenutzt. Viel schwieriger ist es beim guten Stil. Jeder Stil für sich ist eigen, eben das ist seine Definition. Eine generelle Regel verbietet sich.
Es folgt ein Abschnitt über diverse Satzbausteine wie Satzzeichen, Verben, Adjektive oder überhaupt: der Satzbau. Vergnügliche Abschnitte, denn Maar untermauert seine Ausführungen gerne mit jenen Aspekten, über die er gerade schreibt. Schreibt er übers Semikolon, benutzt er es selbst fleißig und im Abschnitt über Gedankenstriche taucht welches Satzzeichen überraschend häufig auf? Ja, eben dieses hier: —. Schreibt er über kurze Sätze, schreibt er selbst welche. Schreibt er über lange, dehnt er sich mit Absicht ellenlang über mehrere Zeilen aus. Weiter geht es mit spezifischer Wortwahl, wie Metaphern, gezielten Wiederholungen oder Dialogkunst, bis er sich im Schwerpunkt der “Bibliothek” widmet, jenen fünfzig Portraits.
Wenn man so will, ist Maars Großessay über Stil ein Wimmelbuch voller Zitate. Egal worum es geht, es gibt überall Passagen aus der Weltliteratur, die den Gang durch die Stilfragen unterfüttern. Das Buch zeugt auf jeder Seite davon, dass der Germanist und Literaturkritiker Maar eben nicht nur viel gelesen hat (logisch, keine Frage), sondern all diese Lektüren vielschichtig zueinander in Beziehung setzen kann. Er notiert Details über die Bekanntschaften der Autoren untereinander und kennt Briefwechsel; er kann jedem Aspekt entsprechend kommentieren und einordnen.
Trotz der beeindruckenden Sachkenntnis will mir eine Frage nicht aus dem Kopf: Was soll ich damit anfangen? Ein Wunschaspekt der Auswahl für den Sachbuchpreis waren “Impulse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung” und für meine eigene gesellschaftliche Auseinandersetzung fand ich wenig. Brillant formuliert, das Buch, und trotzdem aus der Zeit gefallen. Dass Maar konsequent nach alter Rechtschreibung ß schreibt, weil die neue “von einer Bürokraten-Rotte verstümpert” wurde, war zu Beginn noch eine kuriose Randnotiz für mich. Nach mehr als 500 Seiten passt es ins Bild.
Interessant ist doch: Was für eine Diskussion stößt ein Buch an, das fast nur den klassischen Kanon zitiert und sonst wenig zugängliches herbei holt? Was erfährt man über Stil mit Goethe, Musil und Gotthelf, wenn solche Autoren in den meisten Regalen fehlen und zeitgenössischer besetzt sind? Stil hat sich seither weiterentwickelt und wird sich weiterhin entwickeln. Aber von “hier” aus, nicht von “damals” aus. Maar kennt die aktuellen Titel durchaus. In den Urlaubskoffer würde man doch eher J.K. Rowling legen als James Joyce, gibt er an einer Stelle zu, und auch Wolfgang Herrndorf kommt vor. Doch die Moderne und vor allem das Zugänglichere bleibt eine Randerscheinung.
In der aktuellen Diskussion längst angekommen sind Autorinnen, die historisch gesehen vielleicht vergessen gingen, deren Werke aber da sind und ins Rampenlicht gerückt werden. Maar merkt richtigerweise an, dass die mangelnde Anerkennung nicht die Schuld der Frauen gewesen sei. Inhaltlich abgeleitet hat er für sein Werk nicht viel: Von fast 500 Namen im Personenverzeichnis sind nur 16 Prozent die von Frauen. Innerhalb von Maars betrachteter Zeitspanne wäre mehr möglich gewesen, wenn ich mir den Blog und die Arbeit von Nicole Seifert ins Gedächtnis rufe.
Ein Kapitel widmet sich dem “Pikanten” und unter Beteiligung von Goethe, Flaubert und Hölderlin schreibt er über den “Spaß der Welt”. Der “berühmteste Gedankenstrich der deutschen Literatur” lässt aus, was passiert — ein bewundernswerter Kunstgriff für Maar. Ein Kapiteleinstieg allerdings, der nichts mit “Spaß” zu tun hat und wo der Inhalt unter der Bewunderung zugrunde geht, denn Kleists Gedankenstrich ist nichts anderes als eine Vergewaltigung. Maar vergisst darauf hinzuweisen.
“Die Schlange im Wolfspelz” hinterlässt auf mich zwei wesentliche Eindrücke. Beeindruckt bin ich ganz sicher vom Handwerk und dem unglaublichen Fundus, aus dem Michael Maar schöpft. Das ist ohne jegliche verlagsübliche Übertreibung ein Hauptwerk, wie es angekündigt war. Fundiert und vernetzt. Um beim Stil zu bleiben: Stilistisch stimmt da einfach alles. Was mir fehlt, ist der Sprung ins Getümmel. Zwar schreibt Maar, er unterscheide nicht zwischen E und U, doch die Biografie von Hildegard Knef steht nach diesem Hinweis ziemlich alleine da.
Es folgt daraus, dass hier nichts zu messen und also auch nichts zu beweisen sein wird. Alles ist Geschmacksurteil.
Soll am Ende eines langen Satzes dem Rhythmus zuliebe nun “Grat” oder “Gipfel” stehen? Geschmackssache, lässt man außer Acht, dass es sachlich einen Unterschied gibt. Was für ein Glück, dass es bei Stil nichts zu messen gibt.
Mir fehlt das Gefühl, dass hier eine Einladung an “die Vielen” ausgesprochen wird, dass hier mehr Leute abgeholt werden könnten, um beim Stil verschiedener Autor:innen genauer hinzuschauen und sich überhaupt die Bausteine anzuschauen, die für den Gesamteindruck eines Buchs eine Rolle spielen. Eine Stildiskussion auf Basis des klassischen Kanons scheint mit eher für einen kleinen Kreis für Interessierte zu sein statt dieser “Impulse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung”.
Der Originalbeitrag ist von Bettina Schnerr auf Bleisatz erschienen.
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