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Die erste Besprechung kommt von Bettina Schnerr (Bleisatz), die begeistert ist von dem Buch, das auf leichte und spannende Weise komplizierte Informationen vermittelt:
Es gibt Themen, über die lässt sich wahnsinnig schlimm streiten. Ich meine wirklich fies streiten, nicht energisch diskutieren. Und das liegt nicht einmal daran, dass wir es mit unfreundlichen Zeitgenossen zu tun haben. Sondern oft genug daran, dass grundlegende Informationen fehlen oder dass grundlegende Fragen falsch gestellt sind.
Mai Thi Nguyen-Kim wäre nicht Mai Thi Nguyen-Kim, würde sie sich nicht genau diesem Problem widmen. Die Wissenschaftsjournalistin kümmert sich in ihrem aktuellen Buch neben wissenschaftlichen Fragen aller Art auch dem Problem, wie man “richtig” streitet. Gemeint ist ein Streiten, das voran geht. Ein vorwärts Streiten, in dem es um Lösungssuche geht. Ob eine der Parteien tadellos Recht hat und sich durchsetzt oder am Ende ein Kompromiss die beste Richtung vorgibt? Weiß man vorher nicht. Man sollte vorher aber eine gemeisame Grundlage haben, eben eine “kleinste gemeinsame Wirklichkeit”.
Mit diesem Buch landete die Autorin auf der Nominiertenliste vom Deutschen Sachbuchpreis 2021, der in diesem Jahr erstmals vergeben wird.
In insgesamt acht Kapiteln knöpft sich Nguyen-Kim jeweils Themen vor, mit denen man sich regelmäßig die Köpfe heiß reden kann. Erblichkeit zum Beispiel ist so ein Thema. Vor allem deshalb, weil Sinn und Bedeutung des Wortes “Erblichkeit” überhaupt erst einmal erklärt werden müssen, bevor es aufs Ganze gehen kann. Dann Tierversuche. Das Buch erklärt, wie das umfangreiche Regelwerk dafür lautet. Das ist der kleinste Teil, denn der Fragenkatalog rund um Tierversuche ist enorm. Die Wissenschaftsjournalistin widmet sich der Frage nach den Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen. Finden sich ernsthaft Unterschiede? Ja schon, ABER …
Es ist wichtig zu verstehen, wie Wissenschaft überhaupt funktioniert. Was sind valide Daten? Wo fängt Interpretation an?
aus der Jurybegründung zur Nominierung
Wer ihren Youtube-Kanal maiLab kennt, erlebt ein Treffen mit Bekannten. Zu allen Themen gab es schon einmal mindestens ein Video. Rüberklicken und gucken ist erlaubt, dann aber schön wieder zurückkommen. Denn das Buch geht verständlicherweise deutlich tiefer auf die Themen ein und stößt immer wieder Diskussionen mit den Leser:innen an. Ganz bewusst sogar: Jedes Kapitel startet mit einer Frage, klar als “Fangfrage” deklariert. Die Antworten scheinen oft auf der Hand zu liegen. Nach Ende des Kapitels sieht die Sachlage schon ganz anders aus. Wie eingangs erwähnt: Gute Antworten hängen von ausreichend Informationen ab, aber auch von vernünftigen Fragestellungen.
Dröges Fachlatein ist nicht die Art von Nguyen-Kim. Das ist eine fabelhafte Eigenschaft in der Kommunikation, vor allem in der Wissenschaftskommunikation. Wer da zuhört, hat in der Regel einen ganz anderen Wissensstand als eine Gruppe Menschen, die sich -sagen wir- über die Gefahren vom Rechtsabbiegen mit Grünpfeil unterhalten. Einen Führerschein haben viele, ein Auto auch, einen Abschluss in Biochemie oder Physik aber wenige. Nur: Wie erklärt man dann verständlich mRNA-Imfpstoffe, medizinische Zulassungsstudien oder statistische Effekte?
Mai Thi Nguyen-Kim beherrscht die Kunst, Leser:innen oder Zuschauer:innen nicht zu unterfordern, mit den richtigen Grundlageninformationen abzuholen und dann, wenn alles beisammen ist, die kniffligen Fragen ordentlich zu beleuchten. Das ist etwas, was mir an diesem Buch besonders gefallen hat — dass ich eben nicht nur Fakten bekomme und weiß, wo das aktuelle Wissen zu einem Thema wirklich steht. Sondern dass Nguyen-Kim ausführlich erläutert, wie es weitergeht, wenn Fakten fehlen. Oder wie man zum Beispiel damit umgeht, dass die Methodik in der Psychologie ganz anders aussieht als die in der Medizin (und auch da gibt es diskutable Basics, wenn man sich die Homöopathie anschaut – dazu gibt’s im Buch natürlich einen Abschnitt).
Ein letzter Abschnitt kümmert sich um den zentralen Wunsch nach “gutem Streit”. Auch dazu sind ein paar sinnvolle Grundlagen nötig: Was ist eigentlich dieser wissenschaftliche Konsens, auf dem diese kleinste gemeinsame Wirklichkeit steht? Der ist in der Regel sehr viel größer, als das in der öffentlichen Wahrnehmung oft scheint. Bemerkenswerterweise tragen Journalist:innen ihren Teil dazu bei, diese Wahrnehmung teils sehr zu verzerren. Nguyen-Kim weist deutlich darauf hin, dass Konsens kein Abstimmungsprozess ist, wie er beispielsweise in politischen Diskussionen geführt wird. Dennoch gehen viele Pressevertreter:innen genauso damit um und erzeugen ziemlich krumme Bilder von der “gemeinsamen Wirklichkeit”.
Aber (und das ist prima): Die meisten Menschen sind interessiert und wollen informiert werden. Quer- und Leerdenker mögen zwar wahnsinnig laut sein, repräsentieren tatsächlich aber nicht die Mehrheit jener, die entweder ohnehin Facts schätzen oder tatsächlich unsicher sind und einfach “nur” ordentlich informiert werden wollen. “Merci Social Media” muss man wohl sarkastisch sagen, die solche Verzerrungen einfach massiv verstärken.
Tja, was tun? Das, was die Journalistin den “wissenschaftlichen Spirit” nennt. Mit den Erklärungen aus dem Buch lässt er sich einfach nachvollziehen. Hier ist die Freude an Nuancen gefragt, an Differenzierungen und Details — und am Hinterfragen, sogar sich selbst. Es ist Medienzeit gefragt, die für Erläuterungen unbedingt vorhanden sein sollte. Nicht alles lässt sich in dreißig Sekunden Radiozeit oder als 1000 Zeichen-Meldung richtig rüberbringen.
So kommen wir als Gesellschaft weiter, denn hier trifft das Buch die Anforderung der Jury des Deutschen Sachbuchpreises, nämlich “Impulse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung” geben. Finden wir den kleinsten gemeinsamen Nenner, streitet man sich eben nicht mehr darum, ob überhaupt Handlungsbedarf besteht. So ist es beispielsweise beim Klimawandel der Fall oder beim Corona-Virus (Gibt es den überhaupt? oder Ist der überhaupt gefährlich?). Hier wird viel zu viel an der falschen Frage herumdiskutiert. Ausgehend vom gemeinsamen Nenner (wir müssen etwas tun), könnten wir schon längst bei effizienten Lösungsvarianten sein. Der Spirit macht die Musik.
Wissenschaft ist vielleicht nicht “die Wahrheit” — aber ein wissenschaftlicher Konsens ist unsere beste Näherung der Wahrheit. Und wir kommen ihr umso näher, je größer und breiter der wissenschaftliche Konsens in einem Forschungsgebiet ist. Das gemeinsame Ringen um eine Erweiterung des Konsenses — das ist es, worüber es sich zu streiten lohnt.
Holt euch ‘nen Tee:
Gender Pay-Gap – Die ganze Wahrheit ∙ Verursachen Videospiele Amokläufe? ∙ Die Pharma-Verschwörung ∙ Weibliches vs. männliches Gehirn ∙ Impfen: Das wahre Problem hinter den Risiken ∙ Cannabis wissenschaftlich geprüft (Video mit Altersbeschränkung) ∙ Tierversuche ∙ Bestimmt deine Herkunft deine Intelligenz?
… und spätestens jetzt ab in die Buchhandlung.
Der Originalbeitrag von Bettina Schnerr ist auf Bleisatz erschienen.
Steffen Twardowski (Sachen lesen) widmet sich gleich zwei nominierten Sachbüchern auf einmal: „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ und „Maos langer Schatten“ . Die Rezension zum zweiten Titel ist hier zu finden.
„Dass Tatsachen, Meinungen, Fantasien und Ängste zu einer großen Matschepampe vermischt werden, ist nicht nur schlecht für die Wissenschaft, sondern auch für unsere Debattenkultur“, schreibt die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim. Sie geht Debatten-Dauerbrenner wie beispielsweise den Unterschieden zwischen den Geschlechtern, den Risiken der Pharmaforschung und der Legalisierung von Drogen auf den Grund, indem sie die Datenlage zu diesen Themen aufruft und erläutert. Denn wenn intensive Diskussionen zu gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Entscheidungen sinnvoll geführt werden sollen, hilft nur eine wissenschaftliche Denkweise. In ihrem Wer-Wie-Was?-Buch lädt sie ein, exemplarisch diese Methode zu entdecken. Sie erläutert Testverfahren, Grundbegriffe der Statistik und Nachteile eingeschränkter Sichtweisen. So schlägt sie auch eine Schneise durch den Dschungel von Vorurteilen und Verschwörungstheorien, denn gegen Manipulation schützt wunderbar wissenschaftliches Denken.
Diese Art den Verstand zu benutzen, bedeutet für die promovierte Chemikerin Mai Thi Nguyen-Kim „eine Freude an Komplexität und eine Skepsis gegenüber zu einfachen Antworten. Eine Freude an Differenzierungen, Nuancen, Details und Grautönen. Wenn man das mit so mancher verhärteten politischen Debatte vergleicht, wirken typisch wissenschaftliche Diskurse fast wie ein wohltuendes Entspannungsbad. Wissenschaftliches Denken ist aber in erster Linie kritisches Denken – und deswegen auch außerhalb der Wissenschaft gefragt.“ Sie erinnert damit an Factfulness von Hans Rosling und fordert ergebnisoffene, sachliche Diskussionen auch bei brisanten Themen: Fakten statt Fake News, Information statt Interpretation. Bevor gestritten werden kann, muss die Realität abgeglichen werden, sonst gerät das Gespräch darüber schnell in Schieflage. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die eigene Position infrage zu stellen. „Das Paradox unseres Informationszeitalters ist“, stellt Mai Thi Nguyen-Kim nüchtern fest: „Je mehr Informationen verfügbar sind, desto schwieriger wird es, sich zu informieren.“ Der Reiz ihres Leitfaden für kritisches und klares Denken liegt darin, dass sie unterhaltsam, faktenbasiert und präzise ihr Thema bearbeitet. Also genauso, wie ein kontroverser Meinungsaustausch geführt werden sollte, um zu einem weiterführenden Ergebnis zu kommen. So sind am Ende alle klüger und eher bereit, ihre Meinung zu sagen.
Der Originalbeitrag von Steffem Twardowski ist auf Sachen lesen erschienen.
Romy Henze (Travel Without Moving) widmet sich in ihrer Rezension sowohl der Buch- als auch der Hörbuchausgabe:
„Nur eine Sache ist mir klarer als je zuvor: Dass wir uns immer mehr von einem gemeinsamen Verständnis von Wirklichkeit entfernen, das müssen wir dringend ändern.“ (Seite 12)
Mai Thi Nguyen-Kim – promovierte Chemikerin und bekannt durch ihren YouTube-Kanal maiLab – setzt sich in Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit mit verschiedenen Themen auseinander, über die immer wieder gestritten und debattiert wird, und sie erwähnt dabei Fakten, die auf Ergebnissen wissenschaftlicher Studien beruhen, erklärt, wie diese Ergebnisse überhaupt zustande gekommen sind, worauf man bei der Interpretation von Studienergebnissen achten sollte.
Nguyen-Kim berichtet z.B. über die Legalisierung von Drogen, den Zusammenhang zwischen Videospielen und Gewalt, alternative Medizin, Impfungen sowie Tierversuche. Erwähnt werden dabei unter anderem Korrelation und Kausalität, p-Werte und Effektgrößen, Publication Bias und Confirmation Bias, Placebo und Nocebo, Reliabilität und Validität sowie Gen-Umwelt-Interaktionen.
Neben den sehr gut aufgearbeiteten, verständlichen und unterhaltsamen Texten gibt es im Buch zudem viele Illustrationen (von Ivonne Schulze) sowie Boxen mit weiterführenden Informationen.
Sprachlich ist Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit teilweise etwas flapsig, so wie man das vom YouTube-Kanal der Autorin kennt. Beim YouTube-Kanal gefällt mir das sehr und passt gut, beim Lesen musste ich mich aber zuerst einmal daran gewöhnen. Beim Hörbuch hat mir dieser Stil wiederum gut gefallen, weil da bei mir direkt maiLab-Feeling aufkam.
Das Hörbuch wird von der Autorin selbst gelesen, was – natürlich – perfekt passt. Nguyen-Kim liest ebenso professionell wie sympathisch, und ich kann deshalb sowohl das Buch als auch das Hörbuch empfehlen. Oder am besten beides, so wie ich es getan habe.
Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit ist eines von acht nominierten Büchern für den Deutschen Sachbuchpreis 2021, und als einer von acht Sachbuchpreis-Bloggern wurde mir dieses Buch für eine Vorstellung auf meinem Blog zugelost. Und da ich selbst 15 Jahre in der Wissenschaft (in meinem Falle Hirnforschung) tätig war, passte diese Wahl wie die Faust aufs Auge.
Nach der Lektüre muss ich sagen, dass ich mir sehr wünsche, dass Nguyen-Kim das Rennen macht und den diesjährigen Preis abräumt, denn Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit ist nicht nur eine spannende und unterhaltsame Lektüre sowie bietet Einblicke in verschiedene Themenbereiche, sondern (und das ist der Hauptpunkt für meine Begeisterung) vermittelt auf verständliche Weise, was wissenschaftliche Arbeit und wissenschaftliches Denken ausmacht, wie man Ergebnisse interpretiert, wie man Methoden beurteilt, welche Aspekte man bei Studienbefunden immer im Auge behalten sollte.
Ich finde schon lange, dass solche Inhalte in der Schule gelehrt werden sollten, denn hier gibt es massive Defizite, und die Mehrheit der Bürger weiß gar nicht, was Wissenschaft bedeutet und wie Wissenschaft „gemacht wird“, und dieses Manko sorgt dafür, dass Wissenschaft als Meinung und als eine Art Weltanschauung gehandelt wird und dass grundlegende Begriffe etc. nicht bekannt sind.
Mein ausdrücklicher Wunsch ist also, dass Nguyen-Kim die Gewinnerin des Deutschen Sachbuchpreises 2021 sein wird und dass Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit Schullektüre wird oder dass in der Schule zumindest in Ansätzen vermittelt wird, was Wissenschaft ist und was Wissenschaft nicht ist.
„Ich finde es unfair, wenn Skepsis gegenüber Wissenschaft und Forschung pauschal als ‚aluhütig‘ verworfen wird, zumal Skepsis doch die DNA von Wissenschaft und Forschung ist. Eigentlich sollte man Skepsis und Hinterfragen grundsätzlich freudig begrüßen und in seinem kritischen Gegenüber einen Komplizen im wissenschaftlichen Denken sehen. Aber natürlich ist nicht jeder kreative Gedanke automatisch ein kritischer.“ (Seite 119f)
Der Originalbeitrag von Romy Henze ist auf ihrem Blog Travel Without Moving erschienen.
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