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#sachbuchpreisbloggen Martin Schulze Wessel "Der Fluch des Imperiums"


#sachbuchpreisbloggen Martin Schulze Wessel "Der Fluch des Imperiums"

Hans Siglbauer, thelittlequeerreview

Wenn wir in geopolitischen Kategorien denken, sprechen wir heute vielfach von Großmächten. Die USA sind eine, die Sowjetunion war lange Zeit eine. China schickt sich an, die nächste zu werden. Aus analytischer Perspektive nicht ganz deckungsgleich, aber dennoch verwandt, ist der Begriff des Imperiums. Zumindest zu gewissen Zeitpunkten in der Vergangenheit wurden die genannten drei Akteure auch als Imperien bezeichnet, werden es vielleicht teils immer noch oder streben diesen Status an.

Russland, das mit Abstand größte Land, das aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorging, wurde vom damaligen US-Präsidenten Barack Obama einst als „Regionalmacht“ verspottet. Analytisch mag auch das korrekt sein, schmeichelhaft war es für ein so großes Land mit einer so reichen Tradition nicht gewesen sein. Dachte sich wohl auch ein gewisser Vladimir P., der 2008 in Georgien einmarschierte, 2014 auf der Krim (tote Länder) und im Donbass und 2022 bekanntermaßen einen großflächigen Krieg gegen das zweitgrößte Land des früheren Sowjetimperiums vom Zaun brach.

Großmachtsdenken als „Fluch“

Das Großmachtsdenken ist in Russland noch heute weit verbreitet, nein, wir sehen, dass es das Handeln der entscheidenden Akteure bis ins Kleinste beeinflusst und leitet. Das sollte uns nicht überraschen, sind diese imperialen Handlungsmuster doch seit Jahrhunderten in das russische Handeln eingeschrieben. Russland und seine westlichen Nachbarn – vor allem die Regionen, in denen heute Polen und die Ukraine liegen – blicken auf eine lange imperiale Geschichte mit dem Zentrum Moskau oder St. Petersburg zurück. Der Krieg in der Ukraine wäre nach dieser Lesart somit lediglich eine Fortführung jahrhundertelang eingeübter Verhaltensmuster.

So in etwa argumentiert der Münchener Historiker Martin Schulze Wessel, dessen bei C.H. Beck erschienenes Buch Der Fluch des Imperiums – Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte für den Deutschen Sachbuchpreis 2023 nominiert ist. Russland – so Schulze Wessel – verfalle unter anderem aufgrund seiner geographischen Lage, verschiedenen Mächtekonstellationen und historisch gewachsener Pfadabhängigkeiten immer wieder in imperiale Verhaltensmuster, um seine Nachbarn zu dominieren. Dieses Verhalten sei mittlerweile so sehr in der russischen Kultur und seiner Wahrnehmung verankert, dass die Machthaber aufgrund dieses „Fluchs“ immer wieder nach imperialen Mustern verfahren.

Ein Blick tief in die Vergangenheit

Schulze Wessel geht für seine Analyse sehr weit zurück. Anders als beispielsweise Stephan Creuzberger, der mit seinem Buch Das deutsch-russische Jahrhundert im vergangenen Jahr für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert war und der „nur“ bis zum Ersten Weltkrieg zurückblickt, startet Schulze Wessel bereits im Jahr 1700. Das ist ein halbes Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden und mehr als hundert Jahre vor Napoleon. Russland gab es damals bereits auf der europäischen Landkarte, das Königreich Polen-Litauen erstreckte sich unter anderem über große Teile von Belarus und an die Ukraine dachte damals noch kein Mensch.

Ohne Polen und Ukraine aber ist russische Imperialgeschichte nicht denkbar – ohne Deutschland bzw. Preußen und Großbritannien jedoch auch nicht. Während Berlin und London die Gegenpole und -spieler (oder auch mal Verbündete) des russischen Imperiums waren, waren Polen und die Ukraine vielmehr Spielbälle. Polen, mehrfach geteilt, die Ukraine, mehrfach neu zugeschnitten, und Russland, der Große Bruder, der seine Hegemonie über ganz Osteuropa immer wieder ausstrecken wollte.

Klangvolle Namen, schaurige Wegmarken

Es überrascht daher nicht, dass wir so klangvollen Namen wie Zar Peter I. (den Großen) oder Zarin Katharina II. (ebenfalls die Große) in diesem Buch begegnen, ebenso wie der Habsburger-Kaiserin Maria Theresia oder diversen preußischen Friedrichs. Der Krimkrieg gegen Großbritannien war ein einschneidendes Erlebnis, das bis heute Auswirkungen zieht, die bolschewistische Revolution vor etwas mehr als 100 Jahren auch und natürlich dürfen Hitler und der Holodomor nicht fehlen.

Während andere heute versuchen, das Verhalten Putins und seiner Schergen aus der jüngeren russischen bzw. sowjetischen Geschichte heraus zu erklären, wagt Schulze Wessel die ganz große und weit zurückreichende Analyse. Dabei geht er stets auf kulturelle Aspekte ein, erklärt beispielsweise, wo das stetige mächtepolitische Geschaukel mit Deutschland um Osteuropa herkommt und wie dieses und manch andere Praxis über lange Zeit hinweg zu „Kultur“ amalgamierten.

Störe meine Pfade nicht

Das bereits genannte Prinzip der Pfadabhängigkeit genießt bei ihm dabei zentrale Bedeutung und er arbeitet gut heraus, wie sich aus vergangenen Entscheidungen (Pfaden) der für die Gegenwart verfügbare Entscheidungsrahmen einengt und Perspektiven vorzeichnet. Der Krieg gegen die Ukraine war aus dieser Perspektive somit alles andere als überraschend, sondern vielmehr vorgezeichnet. Nicht zuletzt das historisch begründete Pamphlet Putins aus dem Sommer 2021 war ein deutliches Anzeichen hierfür.

Schulze Wessel steigt dabei überaus tief in seine Analyse und Argumentation ein. Der Fluch des Imperiums ist eine spannende, wenn auch oft sehr anstrengende Rückschau auf mehr als drei Jahrhunderte russische bzw. osteuropäische Geschichte, die wir hierzulande gerne übersehen. Sein Buch genügt dabei scheinbar höchsten wissenschaftlichen Kriterien und ist entsprechend komplex. Eine sorgfältige und in die Tiefe gehende Lektüre erfordert absolute Konzentration, was das Buch nicht gerade zu einem leichten Schmöker macht.

Ein Puzzle zum Schluss

Ganz im Gegenteil, es empfiehlt sich, den Fluch des Imperiums sehr genau zu lesen, denn – wie bereits angedeutet – Schulze Wessel kommt immer wieder auf vergangene Akteure und Entscheidungen zu sprechen und erklärt aus ihnen späteres Handeln. So erklärt sich vor allem das letzte Kapitel, das Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion behandelt.

Anders nämlich als die vorherigen vier Kapitel scheint der historische Rückblick in diesem letzten Kapitel nicht so im Fokus zu stehen wie zuvor. Während die ersten vier Abschnitte viel historische Aufarbeitung beinhalten, die eine zusammenhängende Geschichte erzählen, wirkt das letzte Kapitel eher wie ein Sammelbecken, in dem nun verschiedene Aspekte mosaikartig erklärt werden sollen. Das allerdings gibt es an anderer Stelle deutlich ausführlicher und passgenauer als auf den rund 30 Seiten, die Schulze Wessel dem widmet.

So erinnert diese Passage eher an ein Puzzle, bei dem uns ein paar Teile wie die ukrainische Revolutionsgeschichte oder imperiale Infrastrukturen (aka Pipelines) schön und ausführlich dargelegt werden, das Gesamtbild jedoch nicht zeichnet. Auch die Perspektive auf Polen fehlt in diesem letzten Abschnitt leider fast gänzlich. Im daran anschließenden Schlussteil hingegen brilliert Schulze Wessel noch einmal mit einer eindrücklichen Analyse, die vor allem Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine in den Fokus nimmt und die knapp 300 bis dahin liegenden Seiten als tiefgehende Grundlage hierfür nutzt.

Anstrengend zu lesen, noch anstrengender zu erarbeiten

So bleibt festzuhalten, dass Martin Schulze Wessel mit Der Fluch des Imperiums ein Buch geschrieben hat, das uns Jahrhunderte russischer und osteuropäischer Geschichte inklusive vieler Grausamkeiten in aller Ausführlichkeit näherbringt. Es erfordert viel Anstrengung, sich dem in aller Tiefe zu widmen, all die Details aufzunehmen und zu verarbeiten.

Das alles macht dieses Buch zu einer lesenswerten Lektüre, die allerdings ungetrübte Aufmerksamkeit erfordert und gerade im letzten inhaltlichen Kapitel doch eher wie ein unfertiges Mosaik wirkt. Auch wenn es sich definitiv nicht um ein Buch für Einsteigerinnen oder Einsteiger handelt, um russische, imperial geprägte Verhaltensmuster in Hinblick auf seine Außenpolitik und vor allem Osteuropa zu erkennen und zu verstehen, ist Der Fluch des Imperiums eine wohlrecherchierte und tiefgehende Veröffentlichung, die es verdient hat, durch die Nominierung für den Deutschen Sachbuchpreis auch entsprechende Öffentlichkeit zu erfahren.

Der Originalbeitrag ist auf dem Blog von thelittlequeerreview nachzulesen: Das Imperium schlägt immer wieder zurück – the little queer review


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