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Warum sollte man das eine lassen, um das andere tun zu können? Diese Frage stellt sich der Soziologe Natan Sznaider in seinem für den Deutschen Sachbuchpreis nominierten Buch zur Lage der Erinnerungskultur in Deutschland und der Welt. Das eine ist die Erinnerung an die Shoa, das andere die an den Kolonialismus. In seinem klugen, ausgewogenen Buch plädiert Sznaider für eine Ausweitung der Perspektive, die integrativ wirken könnte, ohne die Dinge zu vereinfachen.
Wenn sich Wolfgang Schäuble zur Flüchtlingskrise von 2015 zu Wort meldete, sprach er stets von unserem „Rendezvous mit der Globalisierung“. Das Stichwort ‚Globalisierung‘ geisterte auch 2015 schon seit vielen Jahren durch die politische Berichterstattung, doch ihre Auswirkungen kommen erst nach und nach bei uns an. Sie kommen nicht nur physisch in Form von Menschen aus dem globalen Süden, die von weltpolitischen Konflikten fliehen oder ihren Anteil an Reichtum und Sicherheit der westlichen Welt einfordern. Sie kommen auch in Form von Theorien und Weltanschauungen, die von einem anderen Standpunkt geäußert werden, als wir es lange Zeit gewohnt waren.
Was zunächst gut klingt – wer möchte behaupten, dass es etwas Schlechtes wäre, wenn neue Sichtweisen aus anderen Perspektiven hinzukommen? –, bringt jedoch auch Konflikte mit sich, die mitunter zu heftigen und unversöhnlichen Auseinandersetzungen führen. Problematisch wird es nämlich dann, wenn sich zwei Ansichten von zwei unterschiedlichen Standpunkten scheinbar ausschließen. Dies ist der Fall im Streit zwischen den Theoretikern des Postkolonialismus und den Anhängern der etablierten, deutsch-europäischen Erinnerungskultur, die die Identität Europas maßgeblich auf dem Schicksal der europäischen Juden in der Shoa begründet sehen. Ihr Dissens kondensiert in der wissenschaftlich und politisch hart umkämpften Frage: „Ist es der Holocaust, oder sind es die kolonialistischen Verbrechen, die den Archetypus für die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte darstellen?“
Sznaider meint: Die Debatte könnte anders geführt werden. Es gibt nicht nur schwarz und weiß, sondern auch die Perspektive des Sowohl-als-Auch. Ausgehend von dem Skandal um die Ausladung Achill Mbembes von der Ruhrtriennale 2020 stellt sich Sznaider die Frage, woher eigentlich die Unversöhnlichkeit zwischen den Konfliktparteien kommt und wie ihr Dissens so eskalieren konnte. Sznaider erklärt dies mit der paradoxen Feststellung, die Debattenteilnehmer seien eben keine Zeitgenossen, „sondern argumentieren aus verschiedenen generationellen Weltanschauungen heraus.“
Um die heute geäußerten Standpunkte verstehen zu können, gräbt Sznaider tief in der ideengeschichtlichen Muttererde der verfeindeten Denkschulen. Allein wegen seiner dabei entstehenden Portraits von so aufregenden Denkern wie Hannah Arendt, Frantz Fanon, Albert Memmi und Edward Said würde sich das Buch lohnen. Doch Sznaider bleibt nicht bei der Ideengeschichte stehen, sondern geht noch einen Schritt weiter, indem er eine mögliche Lösung anbietet.
Geschult an Karl Mannheims Wissenssoziologie, die er auf knapp 20 Seiten zwar nicht ausschöpfend erläutert, für deren Attraktivität und Modernität er aber äußerst wirksam wirbt, entwickelt Sznaider seine Idee von einer Alternative zwischen „jüdische[m] Partikularismus“ und „postkolonialistische[n] Befindlichkeiten“. Sie besteht darin, beide Erfahrungen ernst zu nehmen und gelten zu lassen, keine von beiden jedoch zum allein selig machenden Dogma zu erheben. Stattdessen sollten „diese Beschreibungen der Wirklichkeit im ständigen kritischen Dialog mit dem Universalismus der Aufklärung, der befreien kann, durch diese Befreiung aber auch die eigenen Identitäten einschränkt“, stehen.
Sznaiders Buch ist die perfekte Ergänzung zu Per Leos aufregendem Buch Tränen ohne Trauer (Klett-Cotta 2021). Beide Autoren plädieren für einen distanzierteren Blick auf die Erinnerungskultur, der es ermöglicht, die in Rede stehenden Phänomene in weitere Kontexte einzubetten. Auch sprechen sich beide für das Vergleichen aus, das keinesfalls im Widerspruch zur Singularitätsthese stehe. Vielmehr ermögliche erst der Vergleich die Ermittlung einzigartiger Strukturen, wie Sznaider schreibt. Während sich Leo mit seinem Buch vor allem an die Nachkommen deutscher Täter wendet, stellt Sznaiders Buch die spezifisch jüdische Ergänzung zu diesem Anliegen dar. Erhob Leo aus seinen Analysen vor allem die Forderung, die professionelle Erforschung des Holocaust müsse mit harter Arbeit weitergeführt werden, spricht sich Sznaider in erster Linie für einen produktiven und empathischen Dissens aus, der Widersprüche nicht als Problem, sondern als den Normalzustand ansieht.
In diesem Sinne kommt Sznaider am Ende seines Buches wieder zurück zu Hannah Arendt. Gegen den totalitären Terror, der der Konsens des Denkens sein kann, forderte Arendt, „dass wir unterschiedliche Ansichten vertreten und uns bewusst sind, dass andere Leute über dieselbe Sache anders denken als wir“. Natan Sznaider hat ein vermittelndes Buch geschrieben, dass an jene jüdischen Denker der Moderne anknüpft, die sich nicht vor dem Streit, sondern vor dem einheitlichen Denken fürchteten, nicht vor Veränderungen, sondern vorm Stillstand.
Der Originalbeitrag von Pascal Mathéus ist auf dem Blog Aufklappen Literaturkritik erschienen.
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